Bereits beim Netzwerktreffen im vergangenen Jahr wurde das Thema der kulturellen Arbeit in ländlichen Räumen anhand der Möglichkeiten, Leerstände zu nutzen, um neue kulturelle Angebote zu schaffen oder alte wieder aufleben zu lassen, diskutiert. Aus dem Blickwinkel der Corona-Krise betrachtet kann das Thema vielleicht zu neuen Impulsen führen, wie gerade im ländlichen Raum mit geringer Bevölkerungsdichte sinnvoll daran gearbeitet werden kann, neue Räume der sicheren Zusammenkunft mit genauso sicherem Abstand zu schaffen, also Distanz und Nähe in Einklang zu bringen und dazu vielleicht auch aktuell ungenutzte Gebäude mit einzubeziehen. Denn auch wenn der ländliche Raum aus städtischer Perspektive keinen Platzmangel aufweist, so bleibt trotzdem natürlich auch hier die Frage, ob damit der aktuelle Aufruf nach sicherem Abstand ein Kinderspiel ist und die große leerstehende Scheune der ideale Produktionsort für Kunst oder das Zusammentreffen von Gemeinschaften ist?
Was im Workshop Stadt Land Fluss – Leerstand nutzen erarbeitet wurde
Ann-Kathrin Schmidt und Valerie Glock vom Modellprojekt LandKulturPerlen der Landesvereinigung Kulturelle Bildung Hessen (LKB), richteten ihren Schwerpunkt auf das Thema Leerstand in ländlichen Räumen und erläuterten an diesem konkreten Beispiel grundsätzliche Mechanismen der kulturellen Arbeit auf dem Lande. Das Ziel des Modellprojekts LandKulturPerlen ist vor allem, Akteur*innen in ländlichen Räumen Hessens zu stärken und sie darin zu unterstützen auch weiterhin erfolgreich Kulturelle Bildungsangebote vor Ort umzusetzen. Hierzu werden unter anderem Mikroprojektförderungen vergeben und Weiterqualifizierungsangebote durchgeführt.
Die Theorie des Leerstands
Das Institut für Entwicklungsforschung im Ländlichen Raum Ober- und Mittelfrankens e. V. hatte sich bereits mit dem Themenkomplex Leerstand- und Flächenmanagement im Ländlichen Raum in seinen 30. Heiligenstadter und Ansbacher Gesprächen 2017/18 auseinandergesetzt. Der Leerstand wurde dort als nutzbare Flächen in Gebäuden definiert, die zurzeit nicht genutzt werden. Ein Dorf geriete in eine Abwärtsschleife, in der Leerstand, fehlende Modernisierungsmittel, Wegzug und weiterer Leerstand sich potenzierten.
Am einfach nachvollziehbaren Bild des Donut-Effekts (außen viel substanzlose Masse – innen hohl) erklärte die Bundesstiftung Baukultur in ihrem Handbuch zur Innenentwicklung, was zur Aushöhlung eines Ortskerns führe und damit zur Beeinträchtigung von Lebensqualität in einem Dorf beitrage. Auf der einen Seite entstünden an den Ortsrändern Gewerbe- und Neubaugebiete (substanzlose Masse), auf der anderen Seite führe das zu Leerstand im Ortskern (innen hohl). Daraus folge nachbarschaftliche Distanz, Vereinssterben und schließlich sinkende Identifikation der Bewohner*innen mit dem eigenen Ort. Es entsteht eine Leerstandsspirale: Zunächst betrifft es die Hausbesitzer*innen, deren Erlöse fehlen – Modernisierungen können nicht vorgenommen werden – niemand zieht in heruntergekommene Immobilien. Damit wird das private Problem zum kollektiven, denn der Ortskern wird insgesamt weniger attraktiv – noch weniger Menschen wollen dort wohnen – die Geschäfte ziehen aus dem Ortskern in die Einkaufszentren auf den grünen Wiesen außerhalb – die Mietpreise sinken – noch weniger Geld für Modernisierung ist vorhanden – und so weiter und so weiter.
Fragen wie „Ab wann darf man ein Dorf schließen? Ab welcher Einwohnerzahl ist die Aufrechterhaltung der Infrastruktur nicht mehr im Verhältnis? Ab wie viel Leerstand ist die Lebensqualität minimiert?“ bleiben dabei nicht aus. Die Politik braucht Lösungen, die der Abwärtsschleife ein Ende bereiten.
Leerstand und Kulturförderung
Im Koalitionsvertrag der aktuellen Hessischen Landesregierung ist Leerstand beispielsweise bereits ein Thema geworden und wird sogar besonders in den Zusammenhang mit Kunst und Kultur gesetzt: „Zudem wollen wir ein Förderprogramm zum Umbau von Räumen für Kreative nach dem Vorbild des „Radar-Programmes“ der Stadt Frankfurt a. M. starten. Ziel ist, Leerstand und andere für Kreative geeignete Räume in den Ballungsgebieten wie im ländlichen Raum zu identifizieren und bei Bedarf eine entsprechende Nutzung zu fördern. Geeignete Landesimmobilien sollen auch temporär für Kreativprojekte nutzbar gemacht werden.“ (S.143)
Kluge und zukunftsfähige Initiativen und die Politik könnten also die Abwärtsspirale durchbrechen, stand als Arbeitsthese des Workshops fest. Dabei heißt zukunftsfähig handeln, nicht nur nachhaltig in den drei Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Sozialem zu agieren, sondern eine neue Geisteshaltung anzunehmen, die offen und kreativ ist und mit anderen, manchmal auch ungewöhnlichen Lösungen den neuen Herausforderungen begegnet. Ziel ist nun der Krapfen-Effekt: das Beste muss nach innen. Aber wie kann das gelingen?
Donuts in Krapfen umwandeln
Ein möglicher Ansatz ist die Revitalisierung, was bedeutet, mit umweltgerechten, baukulturell hochwertigen und damit zukunftsfähigen Lebensräumen die Menschen persönlich zu berühren, um damit wieder eine Basis zur Identifikation mit den baulichen Besonderheiten der Region anzustoßen. Dabei gilt es dringend auf lokaler Ebene – in den Orten selbst – aktiv zu werden.
Neben Wohn- und Arbeitsorten brauche es noch mehr, nämlich sogenannte „dritte Orte“. Gemeint sind damit Plätze des Zusammentreffens und Raum für Begegnung zwischen Menschen untereinander und mit Kunst und Kultur. „Dritte Orte“ sind statusneutral, niederschwellig und im Kern auf Gemeinschaft, Dialog und Kultur ausgelegt. Besonders Leerstand bietet da sehr viel Spiel- und Freiraum, um in ihnen „dritte Orte“ zu etablieren. Auch für Künstler*innen, die in Großstädten die steigenden Preise für Ateliers nicht mehr tragen können und der Konkurrenzdruck wächst, eröffnen Leerstände in ländlichen Räumen eine Möglichkeit, die auch weitere kulturelle Aktivitäten nach sich ziehen können.
Wesentliche Punkte bedenken
Im Workshop konnte anhand von kreativen Zukunftsszenarien Visionen für Leerstandnutzungen entwickelt werden. Dabei wurde deutlich, dass, auch wenn die Lösung so simpel scheint, es immer Herausforderungen gibt, die bedacht werden sollten:
- Nicht an Bedarfen vor Ort vorbeiplanen und arbeiten
- Hohe Bürokratie mitbedenken (Genehmigungen einholen, Sanitäranlagen nach Vorschriften ermöglichen usw.)
- Sicherstellung einer langfristigen Finanzierung
Anhand der entwickelten Projekte, bzw. den künstlerischen Befüllungen von Räumen wurde schnell klar, was man braucht, um den Ort/das Vorhaben zum Erfolg zu führen:
- Mit den Menschen zusammenarbeiten und damit lokales Know-how, Interessen/Bedarfe, die Geschichte des Ortes einbinden – Offene Angebote, die gemeinschaftsbildend wirken unter Einbeziehung des lokal Vorhandenen/der Lokalgeschichte
- Umfassendes Konzept/Strategie
- Eigenen Rechtskörper (z.B. Verein) um Verträge zu schließen, Haftungen zu regeln und Anträge stellen zu können
- Einbindung der Vereine und Kommunen
- Qualitative kulturelle Bildungsangebote
- Zeitgenössische Kunst an den Orten verstetigen/regelmäßig stattfinden lassen
- Vielfältigkeit / Mehrfunktionale Räume schaffen – die auch von anderen vor Ort genutzt werden können
- Hauptamtliches Personal, mit unterschiedlichen Fachausbildungen als Ansprechbasis
Wenn diese Punkte berücksichtigt werden, kann umgenutzter Leerstand als Ankerinstitution wirken: Zum einen ist eine Vielzahl von künstlerischen Dingen möglich. Zum anderen strahlt der Ort in die Umgebung und bildet das Zentrum eines Netzwerkes, das zu Kooperationen und neuen künstlerischen Utopien einladen kann. Eine gewisse finanzielle Sicherheit ist allerdings die Grundbedingung, denn nur durch sie bleibt die Visionskraft erhalten: Wenn man stets um die Existenz kämpfen muss, bleibt weniger Kraft, um nach vorne zu denken. Der Leerstand könnte somit zum Raum für Inspiration, Engagement, Ehrenamt oder Arbeitsraum für Künstler*innen umfunktioniert werden – Könnte ein Krapfen besser gefüllt sein?
Der Workshop zeigte auf jeden Fall allen, dass es möglich sein kann, sich auf die kompliziertesten Gegebenheiten einzulassen, Unwägbarkeiten sinnvoll zu umschiffen und immer noch kreative Möglichkeiten zur Umgestaltung eines Raumes / einer Situation zu entwickeln. In diesem Sinne ist zu hoffen, dass wir als Gesellschaft im großen in Anbetracht der aktuellen Situation genauso bedacht und kreativ mit der Entwicklung und Umwandlung gangbarer gemeinschaftlicher Räume umgehen, ohne auf die gesunde Kraft der Gemeinschaft zu verzichten.
Welche aktuellen Förderungen unterstützen nun also die kulturelle Arbeit im ländlichen Raum?
Wie wichtig finanzielle Unterstützung ist, um kreative Vorhaben anzustoßen, wurde bereits als wesentlicher Punkt für das Ausbrechen aus der Abwärtsschleife im ländlichen Raum genannt. Insofern lohnt es sich, einen Blick auf mögliche Förderungen für kulturelle Projekte zu werfen. Nicht nur das Förderprogramm Kulturkoffer oder das Modellprojekt LandKulturPerlen für Hessen beziehen sich bei ihrer Förderung stark auf den ländlichen Raum. Grundsätzliche Förderung des ländlichen Raums und der Dorfstruktur bietet die Dorf- und Regionalentwicklung (LEADER) des Hessisches Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und unterstützen bei baulichen Maßnahmen und künstlerischen Interventionen, die die Regionalentwicklung in den Blick nehmen. Aber auch der Bund hat aktuell so einige Förderprogramme auf den Tisch gelegt:
- Ausschreibung „LAND INTAKT – Soforthilfeprogramm Kulturzentren“, durchgeführt durch die Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren e. V. Das Projekt unterstützt Soziokulturelle Zentren, Kulturhäuser sowie Kultur- und Bürgerzentren in ländlichen Räumen mit bis zu 20.000 Einwohner*innen bei Modernisierungen oder programmbegleitenden Investitionen und wird von der BKM ab 2020 mit 1,5 Millionen Euro gefördert. Alle Informationen und Ansprechpartner*innen unter https://www.landintakt.de.
- Ausschreibung „Vor Ort für Alle. Soforthilfeprogramm für zeitgemäße Bibliotheken in ländlichen Räumen“ vom Deutschen Bibliotheksverband e. V. Das Projekt möchte gerade Bibliotheken als „Dritte Orte“ in Kommunen mit weniger als 20.000 Einwohner*innen stärken und wird von der BKM ab 2020 mit 1,5 Millionen Euro gefördert. Alle Informationen und Ansprechpartner*innen unter https://www.bibliotheksverband.de/dbv/projekte/vor-ort-fuer-alle.html.
- Ausschreibung „Soforthilfeprogramm Heimatmuseen“ des Deutschen Verbandes für Archäologie e. V. Das Projekt richtet sich speziell an den musealen Bereich in Kommunen bis zu 20.000 Einwohner*innen, ermöglicht Modernisierungen oder programmbegleitende Investitionen und wird von der BKM ab 2020 mit 1,5 Millionen Euro gefördert. Alle Informationen und Ansprechpartner unter www.dvarch.de/themen/soforthilfeprogramm/.
- Ausschreibung „land.schafft – Förderung für kulturelle Freiwilligenprojekte im ländlichen Raum“ der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. Das Programm richtet sich speziell an die Freiwilligen im Rahmen ihres Freiwilligendienstes, um zusätzliche Projekte in ihrer Einsatzstelle zu realisieren und wird von der BKM seit Ende 2019 mit 200.000 Euro gefördert, die Ausschreibung erfolgte jetzt. Alle Informationen und Ansprechpartner unter https://www.bkj.de/engagement/freiwilligendienste-kultur-und-bildung/projektfoerderung-landschafft/.
Vielleicht ist gerade jetzt ein guter Zeitpunkt, die Gemeinschaftsorte auf zukünftige Anforderungen des Zusammenkommens vorzubereiten und durch Modernisierungen oder neue, kreative Konzepte attraktiv zu bleiben / zu werden.
Weitere Informationen
Institut für Entwicklungsforschung im Ländlichen Raum: 30. Heiligenstadter und Ansbacher Gespräche (PDF)
Bundesstiftung Baukultur: Handbuch zur Innenentwicklung (PDF)
Hessischer Koalisationsvertrag (PDF)
Radar Frankfurt
Modellprojekt LandKulturPerlen
Dorf- und Regionalentwicklung Hessen LEADER
Soforthilfeprogramm Kulturzentren
Soforthilfeprogramm für zeitgemäße Bibliotheken
Soforthilfeprogramm Heimatmuseen
Förderung für kulturelle Freiwilligenprojekte
Weitere Fördermöglichkeiten und Ausschreibungen, insbesondere im Bereich der Kulturellen Bildung, sind auf der Website der Landesvereinigung Kulturelle Bildung (LKB) aufgelistet.
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