Projekte im Bereich der Kulturellen Bildung sind bestrebt, alle anzusprechen und niemanden auszuschließen. Gerade die geförderten Projekte des Kulturkoffers haben durch ihre außerschulische Fokussierung die Möglichkeit, den Zielgruppen einen erweiterten Erfahrungshorizont zu bieten und Dinge erlebbar zu machen, die im Alltag kaum Beachtung finden. Besonders inklusive Veranstaltungsangebote fördern an dieser Stelle Vielfalt und vor allem einen Perspektivwechsel auf andere Lebensrealitäten. Aber wie gestaltet sich „echte“ Inklusion in der Praxis?
Behinderung als kulturelles Phänomen betrachten lernen
Die Mainzer Dramaturgin und Wissenschaftlerin Noa Winter hatte in ihrem Vortrag beim 2019er Netzwerktreffen des Kulturkoffers ausführlich die Verschiebung der Sichtweise auf Behinderung von der medizinischen und diagnoselastigen Perspektive weg auf eine Definition von Behinderung als kulturellem Phänomen gelenkt. Das schafft Raum, um eingefahrene Strukturen zu ändern und Impulse für barrierefreie Gemeinschaften aufzuzeigen. Insbesondere mit barrierefreien Zugängen von Kulturbetrieben setzt sich Noa Winter wissenschaftlich auseinander. Die Devise heißt: Wahrnehmung von körperlicher Diversität als künstlerische Chance und zum kreativen Umdenken.
Medizinischer versus sozialer Blick auf Behinderung
Die in der Gesellschaft stark vorherrschende Handhabe von Behinderung ist, viele verschiedene Faktoren rein auf das betroffene Individuum zu fokussieren: es herrscht eine persönliche Tragödie vor; die Beurteilung geht vom Expert*innenwissen aus und die Medikation von außen ist erforderlich; das Leben wird mittels Sozialleistungen kontrolliert und das Ziel ist die Anpassung der Person und der Behinderung an die vorherrschende Gesellschaftsstruktur.
Der Versuch eines sozialen Blicks ordnet die Behinderung nicht dem Einzelwesen zu, sondern erfasst die Umwelt als den Barriere schaffenden Moment und die Situation des Individuums als sozial unterdrückt. Nicht Expert*innentum und Medikation, sondern Selbsthilfe und die Erfahrungen aus der Betroffenenperspektive führen aus dem Dilemma: es geht um das Recht auf persönliche Wahlmöglichkeit statt Almosen. Statt Individuum an Normen anzupassen, ist der Wandel im sozialen Miteinander anzustreben.
Die Setzung der aktuellen Gesellschaftsstrukturen als Norm und die Sichtweise auf Behinderung als individuelles Dilemma evoziert in Betroffenen meist unterschiedliche selbstabwertende Verhalten: zum einen den Drang nach Verneinung oder als Reaktion auf die Beschreibungen „gesunder“ Körper die Überwindung der angeblichen eigenen Schwächen. Dies soll die Wertschätzung für an die Gesellschaftsnormen angepasste Leistungen mit einem großen „TROTZ“ garantieren: Trotz der Behinderung konnte sich ganz in die Gesellschaft integriert werden. Doch leider reicht auch diese Integration aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft nie ganz aus und trotz der Mühen der Anpassung bleiben die Betroffenen oft mit einem Defizit zurück.
Auch die aktuell immer stärker im öffentlichen Raum diskutierten Begrifflichkeiten wie Inklusion und Diversität schließen nach Noa Winter nach wie vor Behinderung als solche aus. Das heißt, sie berücksichtigen kaum eine Verschiebung der sozialen Struktur selbst, die insbesondere für das Einbeziehen und Mitdenken von Behinderung unabdingbar ist. Sowohl die Konzepte von Diversität als auch Inklusion richten den Fokus nämlich darauf, dass das „Andere“ zwar in der Menge der Norm verteilt und inkludiert ist (Schaubild links), aber die Norm nach wie vor als herrschender, unhinterfragter Ist-Zustand akzeptiert und anzustreben ist und somit die Struktur selbst dabei nicht zwangsläufig einen Wandel unternimmt (Schaubild rechts). Insofern plädiert Noa Winter dafür, mutig zu sein und strukturelle Veränderungen durch Perspektivwechsel auf die Bedürfnisse für Menschen mit Behinderungen möglich zu machen und damit erst recht die Vielfalt von Inklusion und Diversität in die Welt zu tragen – der Mensch als solcher ist nicht behindert, sondern er wird dazu gemacht.
Audiodeskription, Gebärdensprache & Relaxed Performance
Warum sollten sehbehinderte Menschen kein Interesse an Film oder Tanz haben? Mit der Hilfe von Audiodeskription ist der Zugang kein Problem. Auch Menschen mit einer Hörschädigung können Musik wahrnehmen und sich in Gebärdensprache darüber austauschen. Und ein Theater, das die Rezeptionsmöglichkeiten durch die Form der Relaxed Performance mittels lockerer Atmosphäre mit Sitz- und Liegemöglichkeiten für Menschen mit Tourette-Syndrom, chronischen Schmerzen oder Aufmerksamkeitsdefiziten erleichtert, schafft Vielfalt und öffnet den Weg zu einer Veränderung der eingefahrenen Normen. Wünschenswert wäre es allerdings, wenn die Unterschiedlichkeit von Körpern in ihren Funktionen, Möglichkeiten und Bedürfnissen in jeden Prozess direkt mitgedacht und eingefügt würden, sprich, wenn der/die Gebärdendolmetscher*in nicht alleine als Übersetzung für Einzelne dient, sondern z.B. kreativ in das Theaterstück als Teil des Ganzen einbezogen wird. Eine wünschenswerte Zukunft für Alle wäre eine Welt ohne Einschränkungen mit Erweiterungen, die allen Teilhabe möglich machen. Die aktive Gestaltung von Kulturveranstaltungen, die alle mitnimmt und niemanden ausschließt, ist eine von vielen Möglichkeiten, die Normen zu verändern.
si
Weitere Informationen
Vortrag Noa Winter (Youtube)
Interview mit Noa Winter bei Rampenlicht 2
Interview mit Noa Winter bei Grenzenlos Kultur
Leidmeiden: Broschüre Behinderung in den Medien
EUCREA Diversität im Kunst und Kulturbetrieb: Positionspapier
Englischsprachige Ressource zu Barrierefreiheit
Wörterbuch von Diversity Arts Culture
Aktion Mensch: Themenheft Inklusion
Institut für Bildung und Kultur e. V.: Es ist normal, verschieden zu sein
Die neue Norm: Newsletter von Raul Krauthausen